Religiöse Bildung in und mit Zukunft?
Versuch eines ‚neutralen‘ religionspädagogischen Gedankenspiels

Ein Beitrag von Johannes Heger
Leben, Wahrnehmen und Denken vollzieht sich stets in einem durch Raum, Zeit und Kultur geprägten Horizont. Zum eigentümlichen Wesen des Menschen gehört es dabei, dass er in der Gegenwart über sich selbst, seine Mit- und Umwelt sowie darin präsente Zusammenhänge reflektiert – die Vergangenheit als Hintergrundrauschen, die Zukunft stets als zu gestaltende, nahende Gegenwart präsent.
Wenn dieser Essay nach der Zukunft des RU fragt; oder: ein Gedankenspiel …
Wenn in Deutschland gegenwärtig verstärkt in der Öffentlichkeit, in der Bildungspolitik, im Kontext der wissenschaftlichen Religionspädagogik oder auch hier in der ersten Ausgabe von RUplus die Frage gestellt wird, wie Religionsunterricht (RU) als zentrales Format religiöser Bildung in Zukunft aussehen könnte, sollte oder müsste, dann ist dies zunächst nicht unmittelbar als Zeichen einer Krise des RU oder gar religiöser Bildung zu verstehen. Vielmehr ist dies als Hinweis darauf zu interpretieren, dass die Fragenden RU ganz menschlich behandeln – nämlich ausgerichtet auf Zukunft. Zugleich aber wird deutlich, dass sie die Zukunftsgestalt des RU sehr wohl als transformationsbedürftig begreifen (ähnlich: Englert et al. 2014). Religionslehrkräfte, Herausgebende einer religionspädagogischen Zeitschrift oder auch akademische Religionspädagog:innen – wie der Autor selbst – unterliegen dahingehend einer systemimmanenten Bias, insofern sie die Frage nach RU in Zukunft (un-)bewusst mit der leitenden Absicht verbinden, nach Transformationsoptionen des RU zu suchen, die zu einem RU mit Zukunft führen. Denn ihnen geht es bei aller Vielfalt von Gestaltungsmöglichkeiten generell um einen Systemerhalt des RU bzw. der religiösen Bildung im Schulsystem.
Das nunmehr begonnene essayistische Gedankenspiel wagt im Folgenden einen paradoxalen Versuch: Im Ansinnen, die eigene systemisch bedingte Sicht durch Selbstvergewisserung weitestgehend zu relativieren (Boschki 2007), soll es darum gehen, in höchstmöglicher Neutralität Optionen der Zukunftsfrage religiöser Bildung systematisierend zu skizzieren, um Einblick in aktuelle Diskurse und dabei Lesehinweise zu geben, perspektivische Weitungen zu ermöglichen und ggf. durch Irritation(en) Positionierungsprozesse anzustoßen – v. a. mit den zuspitzenden Thesen, welche im Folgenden die Erarbeitungsschritte abschließen.
Wenn die Religionspädagogik generell nach der Zukunft des RU fragt …
Dass die Frage nach RU in der Zukunft nicht nur die Redaktion von RUplus bewegt, sondern gleichermaßen die gesamte wissenschaftliche Religionspädagogik, lässt sich an zahlreichen Publikationstiteln rekonstruieren: Spätestens seit den 1990er Jahren zieht sich die Frage nach der Zukunft von religiöser Bildung bzw. RU der Sache nach und vermehrt auch begrifflich durch den religionspädagogischen Blätterwald, wie an zahlreichen Titeln im Literaturverzeichnis ersehen werden kann (u. a. Hilger/Reilly 1993; Lindner et al. 2017; Schröder 2018; Riegel 2018; Hartmann/Pirker 2021; Grümme/Pirner 2023; Baumert/Teschmer 2025). Wie diese Beispiele illustrieren, avanciert(e) das Aufbringen der Zukunftsfrage zu einem formalen hermeneutischen Schlüssel der Disziplin. Ist die Religionspädagogik – u. a. in ihrer handlungswissenschaftlichen Perspektive bzw. in ihrer praktisch-theologischen Grunddynamik des „Sehen – Urteilen – Handeln“ (Brieden/Heger 2018) – wissenschaftstheoretisch bereits per se auf Zukunft ausgerichtet, verstärkt sich diese Logik durch das begriffliche Framing mit „Zukunft“. Manchmal ist diese Perspektive so konkret, dass von einem definierten raum-zeitlichen Standpunkt aus auf eine näher definierte Zukunft des RU geblickt und daraufhin reflektiert wird (bspw. Rupp/Hermann 2013). Signum all dieser Bemühungen ist es, die durch eine produktive Distanz zur Praxis gegebene akademische Freiheit zu nutzen, um in einem proaktiven Modus RU und religiöse Bildung systematisch auf Zukunft hin zu entwickeln.
In der Hitzigkeit realer Handlungszusammenhänge sind es jedoch nicht selten wissenschaftsexterne Herausforderungen bzw. gesellschaftliche, mentalitätsgeschichtliche oder (bildungs-)politische Kontexte, welche die faktischen Transformationsdynamiken für den RU bedingen. So waren bspw. die entscheidenden Reformbewegungen zur inhaltlichen Ausrichtung des RU in den 1960/1970er Jahren eng verknüpft mit religionspädagogischen Resonanzen auf die 1968er-Bewegung (Schröder/Rickers 2010). Gewissermaßen war es in dieser Epoche ein auch heute wieder, aber in anderer Weise wahrzunehmender „Plausibilisierungsdruck“ (Domsgen/Witten 2022), der die wissenschaftliche Religionspädagogik in ihrem Selbstentwurf wie auch das religionsdidaktische Profil des RU in Bewegung brachte (Heger 2017, 137-159; Herbst 2020). Bezüglich solcher von außen induzierter Reformbewegungen ist von einem reaktiven Modus zu sprechen, in welchem die (Zukunft-)Gestalt des RU bearbeitet wird. Kritisch ist dies nicht im Falle des historischen Beispiels, wohl aber als generelles Formalprinzip zu sehen; zumindest dann, wenn bestehende Herausforderungen – als „Krise“ interpretiert – eine dichotome Entscheidungslogik forcieren, Handlungsoptionen beschränken (Altmeyer 2017) und damit ggf. zu bedingt weitsichtigen Entwicklungen und Entscheidungen hinsichtlich des RU in Zukunft führen.
- These 1: Akteur:innen aus Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft, welche einen RU mit Zukunft gestalten wollen, müssen auf Anfragen und Herausforderungen reagieren. Allerdings empfiehlt es sich dazu, im proaktiven Modus grundlagentheoretisch und weit über die Zukunftsoptionen des RU zu reflektieren – vielleicht sogar antizipierend. Oder um es sloganhaft zu formulieren: Um einen RU für das Morgen zu entwickeln, lohnt es über sozio-religiöse Kontexte von übermorgen nachzudenken.
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